Tanzperformance
CARMEN
Ballet de l’Opéra de Tunis / Abou Lagraa
Georges Bizets »Carmen« ist eine der bekanntesten Opern der Welt, in Tunesien aber wurde sie im Februar 2024 zum allerersten Mal überhaupt gezeigt – und dann gleich als choreografische Oper mit dem Ballett-Ensemble am Opernhaus von Tunis. Regie führte der Choreograf Abou Lagraa, der seit vielen Jahren im Austausch mit nordafrikanischen Künstlern arbeitet. Als Kind algerischer und ägyptischer Eltern hat der Franzose seine tänzerischen Wurzeln ausnahmsweise nicht im Hip-Hop, sondern im zeitgenössischen Tanz, darunter auch bei der legendären Frankfurter Kompanie S.O.A.P. von Rui Horta.
Um zu den puren Emotionen zurückzufinden, die den berühmten Arien zugrunde liegen, entschied sich Lagraa für eine karge, fast minimalistische Inszenierung. Die Titelfigur stellt für ihn nicht nur die umschwärmte, neckische Verführerin dar, sie repräsentiert vor allem die Freiheit bis zum Tod. Carmen ist das utopische Konzept einer emanzipierten Frau – einer Frau, die deshalb eine Gefahr für Männer darstellt. Lagraas Interpretation der Handlung lebt von der orientalischen Perspektive auf die Geschichte. Er zeigt bewusst eine Carmen der Nomaden, der Berber und uralten nordafrikanischen Völker. Immer wieder oszilliert die Choreografie in Wellenbewegungen und erinnert an die Kraft des Mittelmeers, das den Maghreb und Europa vereint.
„Lagraas Inszenierung von Carmen setzt viele kleine Zeichen und Andeutungen. Nicht zu übersehen sind die ausgiebig eingestreuten Gruppenbilder:
Mal sind es sinnliche Duette, mal im Unisono Zigarette rauchende Carmencitas. Die Geste kann in einem arabischen Land so viel Verstörung auslösen wie die hier gezeigten weiblichen Körper: nicht nackt, aber frei. Wichtig ist die Solidarität, sowohl unter Frauen als auch zwischen den Geschlechtern. Da wird eine Einzel-Carmen von fünf Don Josés mit Blumen umgarnt und tanzt ihre Glücksgefühle. Es gibt sinnliche Akrobatik und einen symbolischen Hieb mit dem Messer - in den Bühnenboden! Es ist nicht leicht, einem permanent bearbeiteten Mythos eine neue, stichhaltige Facette abzugewinnen. Abou Lagraa gelingt das, indem er die Perspektive umdreht und die von Prosper Mérimée und Georges Bizet verewigte Femme fatale zum Symbol von Einheit und Solidarität zwischen den Hemisphären macht. Und darauf verweist, dass in jedem von uns, mehr oder weniger verborgen, eine Dosis nach Freiheit lechzender Carmen schlummert.“ Thomas Hahn
Choreografie: Abou Lagraa
Musik: Georges Bizet
Kostüme: Paola Lo Sciuto Kostüme
Licht: Alain Paradis
Tanz: Ballet de l’Opéra de Tunis
Fotos: David Bonnet